Sich-Orientieren heißt „Wie von hier aus weitergehen?“ und stellt damit ein Moment dar, von dem aus sich Leben und Welt entfaltet, von dem aus Richtungen aufscheinen, die wir einschlagen oder eben auch nicht einschlagen können. Orientierungen sind dabei immer in Kontexte eingebettet, verdanken sich einem Verwoben-Sein in Gesellschaft, die uns Richtungen vorgibt, Linien weist und nahelegt, welche Pfade wir gehen, welche wir uns vorstellen und welche wir für möglich halten. Orientierungen sind also nicht „frei“, sondern von einem „Außen“ geprägt und damit von einer gewissen „Gewalt“ oder Dominanz durchdrungen. Doch „wenn Orientierungen in die Zukunft weisen, auf das, worauf wir uns zubewegen,“ wie Sara Ahmed sagt, „dann halten sie auch die Möglichkeiten offen, die Richtung zu ändern, andere Wege einzuschlagen“. Dieser Abweichung vom Vorgezeichneten geht eine Des-Orientierung voraus, ein Fremd-Werden des Vertrauten. Denn nur so ist es uns möglich, andere Blickwinkel auf die Welt einzunehmen und neue Zukünfte zu generieren. Des-Orientierung wäre dann kein Verloren-Gehen oder „Sich“-Verloren-Gehen mehr, sondern vielmehr ein Potential, eine Notwendigkeit sogar, um andere Wege einschlagen, um andere Formen finden zu können, Welt zu bewohnen. Wenn Leben Veränderung ist, sein wird und – im besten Falle – auch sein soll, dann gilt es also sich an der Des-Orientierung zu orientieren, d.h. sich selbst immer wieder neu zu desorientieren.
Anknüpfend an ihre multimediale Praxis, die Performance, Film und Fotografie ebenso einschließt wie Sound-, Text- und Spracharbeiten, hat Luzie Meyer für ihre Ausstellung Cyclic Indirections eine Klang- und Videoinstallation entwickelt, deren Ausgangspunkt und Handlungsort der Simon-Loschen-Leuchtturm in Bremerhaven ist – der älteste Festland-Leuchtturm an der Nordseeküste, 1853 bis 1855 nach Plänen des gleichnamigen Architekten erbaut. Leuchttürme leiten, warnen vor Gefahren und geben Orientierungspunkte, die eigene Position zu bestimmen. Meyer zeigt in ihrer Ausstellung zudem eine Videoarbeit, die ebenfalls auf dem im Leuchtturm gesammelten Bild- und Geräuschmaterial basiert, sowie eine fotografische Serie, die eine Art Dokumentation des Entstehens darstellt. Gleich weiteren Ebenen schreiben diese Arbeiten die Installation fort, öffnen sie hin zu etwas anderem, wobei sie gegenseitig aufeinander verweisen, sich gegenüberstehen, einander aber auch stören. Dieses Moment der Störung ist ein durchgehendes. Wie sich die Ausrichtung der Architektur des Leuchtturmes in den filmischen Arbeiten aufzulösen scheint, so wird auch die Architektur der Kunsthalle in der räumlichen Inszenierung der Installation unterlaufen. Eine zweite fotografische Serie ist vor Ort in der Kunsthalle entstanden und zeigt eine Marionette – die Direktorin der Institution –, die diese sozusagen bewohnt und sich zu eigen macht. Durchzogen von Momenten einer poetisch-fragmentarischen Sprachpraxis, Techniken der Musique concrète und Anleihen an den strukturellen Film hat Meyer mit ihrer Ausstellung ein Geflecht an Arbeiten geschaffen, das einen Sprach-, Bild- und Klangraum eröffnet, der Sinn, Poesie und Reflexion entfaltet ohne jedoch etwas Genaues zu benennen. „Bedeutung“ entsteht hier im Umkreisen, im Andeuten, in der Ambivalenz, in den Fetzen, Lücken und Zwischenräumen, in der Orientierung und Desorientierung. Also nicht nur in dem, was da ist, sondern auch in dem, was nicht da ist. Quasi in der Störung, in der Unterbrechung, in der Dekonstruktion und in den Brüchen. Und dies auf klanglicher und sprachlicher wie auch auf bildlicher und architektonischer Ebene.
Cyclic Indirections ist die erste institutionelle Einzelausstellung von Luzie Meyer und wurde von Stefanie Kleefeld kuratiert.
Veranstaltungen
Donnerstag, 29. September 2022, 18 Uhr
»Kunst und Cocktail«
Rundgang durch die Ausstellung mit Julia Bokermann
Um Anmeldung wird gebeten bis zum 22. September 2022 unter info [at] kunsthalle-museum-bremerhaven [dot] de
Dienestag, 11. Oktober 2022, 16:30 bis 18 Uhr
Dienstag, 18. Oktober 2022, 16 bis 18 Uhr
Zweiteiliger Workshop des ATELIER GOETHE45 in der Kunsthalle und im Atelier Goethe45
Für Kinder ab 6 Jahren
Dienstag, 1. November 2022, 18 Uhr
Gespräch zu den Arbeiten von Luzie Meyer
Mit Kathrin Bentele (Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf) und Stefanie Kleefeld (Kunsthalle und Kunstmuseum Bremerhaven)
Samstag, 3. Dezember bis Sonntag, 4. Dezember 2022
»Finissage-Weekend«
Mit u.a. einem artist talk von Luzie Meyer