Sitemap | Impressum | Datenschutz |

27. Juni bis 1. August 2010

ANETT STUTH
HABEN SIE NICHTS VERGESSEN?

Anett Stuths Fotografien sind Bilder. Doch da, wo das herkömmliche fotografische Bild die Einheit von Ort, Zeit und Motiv suggeriert, spannt die 1965 geborene Fotografin einen Bogen über mehrere Orte, verschiedene Zeiten und unterschiedliche Genres.
Aus einigem Abstand betrachtet, sieht man EINE Fotografie. Eine einheitliche Komposition, in der sich wie selbstverständlich weitere Räume und Perspektiven auftun. Erst im Nahblick erschließt sich die Simultaneität divergierender Bilder und Welten. Konstellationen, die wir so zuvor nie gedacht haben. Vergangenheit und Gegenwart verbünden sich zu rätselhaften Assoziationsschleifen, wie wir sie vielleicht aus unseren Träumen erinnern. – Haben Sie nichts vergessen?
Der fotografischen Collage entlockt die in Berlin lebende Künstlerin illusionistische Architekturen, deren Bildzitate ebenso irritierende wie humorvolle Bezüge zur Realität knüpfen. Zur blauen Stunde trifft Diane Arbus im „Seestück“ auf René Magritte, und in einem Club grüßt Banksys Ratte Christiane F., während Klausjürgen Wussow Renton aus „Trainspotting“ zuprostet: „Ich kann auch saufen ohne Spaß zu haben“. Bildzitate aus der Historie, aus der Film-, Kunst- oder Fotografiegeschichte werden mit Aufnahmen alltäglicher Situationen oder der permanenten News-Ticker montiert und collagiert. Doch das sattsam Bekannte wird in diesen Fotografien seltsam fremd.
Anett Stuth absolvierte ihr Fotografie-Studium an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst, wo sie ab 1991 zunächst bei Arno Fischer und später bei Timm Rautert studierte und 1998 als Meisterschülerin abschloss. Angeregt von den Diskursen um Kunst- und Reportagefotografie, um Dokumentation oder dokumentarische Fotografie, hat sie mit ihrer Serie „Raum - Zeit - Bild“ ab 2003 einen Weg beschritten, der die herkömmlichen Dimensionen des fotografischen Raums überschreitet und ihn neu definiert.
Villem Flussers These, dass „nur eine Serie von Fotografien die Absicht des Fotografen belegen“ kann, hat Anett Stuth damit widerlegt. Nicht die serielle Reihung, wie bei Roni Horn, oder die archivalische Motivballung, wie bei Bernd und Hilla Becher, verdichten Form und Inhalt, sondern eine dem Sampling entlehnte Strategie: Im behutsamen Abtasten der sichtbaren Oberfläche schafft Anett Stuth komplexe Bild- und Denk-Räume.
Das Zitat als künstlerische Methode steht jedoch – anders als bei Appropriationskünstlern wie Sherrie Levine oder Richard Prince – nicht für eine ‚Wieder-Fotografie’ im Sinne selbstreferentieller Kritik. Vielmehr spiegelt es den Dialog der Künstlerin mit der sie umgebenden Welt und ihr Hinterfragen der Ausdruckskraft des Mediums. Was kann eine Fotografie angesichts der allgegenwärtigen Verbilderung heutzutage vermitteln? Was alles müssen wir vergessen, damit sie uns noch berührt?
Denn das Bild, das der Mensch einst schuf, um sich an ihm in der Welt zu orientieren, hat er zu entziffern verlernt. Wie der Panther in Rainer Maria Rilkes gleichnamigem Gedicht, sehen wir „hinter tausend Stäben keine Welt“. Mit ihrer Kamera und mit ihrem wachen Auge lotet Anett Stuth die Lücken zwischen den Stäben aus und transformiert, was sie dahinter entdeckt, zu Fotografien, deren poetische Kraft und sublimer Humor unsere Erinnerung wachhalten und die Vielstimmigkeit der Welt erträglicher machen.
Michaela Nolte

Telefon: 0471 46838
Allgemeine Informationen